Autor: halimyoussef
Bei der 26. Lesung war Halim Youssef auf dem literarischen „Cronenberg“ zu Gast
Sa., 05. Mai 2018 um 17:00 Uhr
Die Geschichten erzählen von Vertreibung, Flucht und Angst; aber so humorig geschrieben, dass man trotz des ernsten Hintergrundes immer darüber lachen muss.
Revolutionen in einem winzigen Zimmer
Eine Kurzgeschichte von Halim Youssef
In meinem ersten Jahr als Student in Aleppo kannte ich nur die Freunde meines grossen Bruders, die dort schon seit langer Zeit studierten. Ich zog zu ihnen in ihre kleine Wohnung, in der wir zu viert wohnten. Ich bekam eine winzige Kammer, in der nur ein Bett stand. Aber ich hatte es dort sehr bequem, denn ich mußte nicht kochen, was ich ja auch nicht konnte. Dafür mußte ich für alle die Zeitungen und Zeitschriften besorgen.
Es störte mich aber, daß mich meine Mitbewohner immer als „den Kleinen“ ansahen. Sie hatten sogar Angst, daß ich in der großen Stadt verloren gehe: Ich kannte ja auch nur einen Weg, den Weg von zu Hause zur Universität.
Bei uns in der Wohnung wurde viel über Politik gesprochen. Eines Tages kam ein Mitbewohner zu mir:
„Ich möchte, daß du uns dein Zimmer überlässt.“
Ohne zu zögern, sagte ich zu, denn mir war sofort klar, worum es ging.
Ich erinnerte mich an die politischen Diskussionen, die sie mit meinem Bruder in Amude geführt hatten. Ich ging damals noch zur Schule und hörte von ihnen ständig ganz große Namen:
-Che Guevara, Scheich Seyit, Lenin, Barzani, Stalin und Lumumba.
Ich sagte mir immer:
„Mein Gott, wann bin ich endlich erwachsen, damit ich zur Universität gehen und dort mehr über diese Menschen erfahren kann.“
Ich brauchte sie wirklich nicht zu fragen, wozu sie meine Kammer haben wollten. Es reichte mir, zu hören, daß sie mein Zimmer fünf bis sechs Stunden brauchten.
Einmal verbrachte ich deswegen den ganzen Tag draußen auf der Straße. Ich weiß noch, wie ich mich verlaufen habe. Ich kam zu einem einsamen Ort ohne Leben, ohne Menschen und ohne Tiere. Dort waren nur Hochhäuser und Bäume und auf dem Boden lagen Blätter.
Ganz in Gedanken versunken lief ich glücklich durch die Stadt: Ich hatte den Genossen mit meinem Zimmer geholfen. Das gab mir das Gefühl, etwas für Kurdistan getan zu haben. Diese fünf bis sechs Stunden, in denen ich mein Zimmer nicht betreten durfte, erfüllten mich mit Zufriedenheit, denn ich hatte es ja wegen der Versammlung geräumt! Es gibt doch nichts Schöneres als das eigene Zimmer für die Heimat zur Verfügung zu stellen!
An diesem Abend fuhr ich mit dem Taxi nach Hause. Ich war schrecklich müde, und ich war mir auch ganz sicher, daß in meinem Zimmer heftig diskutiert wurde: Über verschiedene Meinungen, über die Partei und über Politik im allgemeinen. Sicher wurden auch wieder hundert von interessanten Namen erwähnt.
Zu Hause angekommen, war die Versammlung schon zu Ende. Aber als ich meine Bettdecke aufschlug, um mich hinzulegen, strömte mir ein göttlicher Duft entgegen. Ich verbrachte jene Nacht wie im Rausch. Ich weiß nicht mehr, wie ich geschlafen habe und welche Gedanken durch meinen Kopf spukten. Kam dieser berauschende Duft etwa vom Parteichef? Duften politische Versammlungen immer so gut oder war es nur diesmal so?
Von da an sollte ich jeden zweiten Tag mein Zimmer für ein paar Stunden räumen, und wegen der Wichtigkeit des Anliegens und – zugegeben – auch wegen des Duftes war ich sofort damit einverstanden.
Eines Tages kam ich etwas früher als sonst nach Hause. Ich hörte zunächst, wie jemand leise eine Tür öffnete. Dann vernahm ich ganz leise Schritte: Es war eine Frau! Jetzt verstand ich, was das für eine heftige und lange Versammlung gewesen sein musste. Jetzt wußte ich auch, woher die seltsamen Flecken auf meinem Bettlaken kamen. Von diesem Moment an war mein größter Wunsch, auch an solch einer Versammlung teilnehmen zu dürfen. Ich betete zu Gott: „Gott, zeig mir den Weg zu einer solchen Versammlung.“
Zehn Jahre später brachte mein Mitbewohner seinen kleinen Bruder zu uns in die Wohnung und sagte:
„Mein Bruder ist völlig naiv. Er ist ganz neu hier; Ihr müßt gut auf ihn aufpassen.“
Sicher hatte mein Bruder vor zehn Jahren zu seinen Mitbewohnern das Gleiche über mich gesagt.
Wir gaben dem Kleinen unsere Kammer und jeden zweiten Tag sagten wir ihm:
„Wir bitten dich, dein Zimmer zu räumen. Wir haben eine Versammlung….“



Lesung: Halim Youssef im Theater am Engelsgarten
Fr., 04.11.2016, 19:30 Uhr
In einem „Syrischen Potpourri“ mit Christiane Gibiec, der Autor Halim Youssef liest aus seinen Werken:
- Kindermörder
Sarah war eine 32 jährige Mutter und saß in einem kleinen Ort zwischen Griechenland und der Türkei fest. Den Namen des Ortes kannte sie nicht. Was in den letzten zwei Tagen passiert war ließ ihr keine Ruhe mehr. Eine Sache beschäftigte sie besonders; es war der Mörder ihres Sohnes. Sarah wusste immer noch nicht wie alles passieren konnte. Ihre Erinnerung reichte nur bis zu einem bestimmten Punkt zurück, danach war alles schwarz, nichts, es gab keine Erinnerung. Sie konnte sich noch erinnern wie sie sich mit 15 Menschen in ein Boot quetschte, dass gerade Platz für fünf hatte. Es gab ihr Hoffnung, dass in dem Boot noch zwei weitere Mütter mit Kindern waren. Das nächste woran sie sich erinnern kann, ist wie die Menschen im Boo laut durcheinander geschrien haben. Sie konnte nur verstehen, dass irgendwas mit dem Boot nicht in Ordnung war. Zwischen den Schreien hörte sie heraus wie ein anderes Kind auf dem Boot geweint hat. Sie bekam Angst und umklammerte ihr Kind. Im Wirrwarr der Stimmen merkte sie wie das Boot anfing zu sinken.
Jemand schrie dann: Das Boot sinkt!
Ein anderer: Das Boot kippt um!
Das waren die letzten Worte die sie hörte bevor die Dunkelheit in ihren Erinnerungen einsetzte. Sie war durcheinander, Fragen schossen unkontrolliert durch ihren Kopf:
Warum bin ich am Leben? Wieso lebt mein Mann? Wie kann es sein, dass wir leben und unser liebes unschuldiges Kind von uns genommen wurde? Welche Mutter kann ihren schönen Sohn nicht festhalten? Was ist das Meer für ein Mörder, das es einen zwei jährigen Jungen an den Tod verkauft?
Sie kannte nicht eine einzige Antwort auf all diese Fragen. Sarah wusste nur, dass sie in einem Ort festsaß dessen Namen sie nicht kannte und dass der Mörder ihres Sohnes ihr friedlich ins Gesicht lachte.
Die Namen von Ländern die sie vorher noch nie gehört hatte und von denen sie sich niemals vorstellen könnte, dass sie dorthin reisen würde, prasselten plötzlich auf sie ein: Kroatien, Serbien, Ungarn, Österreich und zuletzt Deutschland. Sie musste an ihre Flucht aus einem Dorf in der Nähe von Aleppo nach Qamischli denken. Während der Flucht war der Himmel voll von Kriegsflugzeugen aus der ganzen Welt. Kriegsflugzeuge aus Amerika, Japan, Jordanien, Russland. In Sarahs Kopf befanden sich alle Länder im Dritten Weltkrieg. Alle Waffen aus allen Ländern wurden in diesem Krieg in ihrem Land getestet.
Sarah hatte damals die Hoffnung verloren, dass es unter den Menschen noch eine Gerechtigkeit geben könnte. Das was ihr blieb, war der Glaube an eine göttliche Gerechtigkeit.
Sie stellte sich dauernd eine Frage: „Wenn morgen der Krieg vorbei wäre, vielleicht würden die, die den Krieg verursacht haben vor Gericht gestellt. Vielleicht würde man auch die Kriegsverbrecher vor Gericht stellen…aber wer würde den Mörder meines Kindes vor Gericht bringen?“
- Wer ist der Flüchtling?
Der Flüchtling ist wie ein Vogel, der die Hälfte seines Lebens damit verbracht hat zu verhindern, dass sein Heimatland ein Käfig wird. Nachdem sein Land aber zum Käfig geworden war, war er schon geflohen.
Der Flüchtling ist der Vogel, der plötzlich merkt, dass auch seine neue Heimat ein Käfig ist; ein Käfig mit vier Gitterstäben. Der erste Stab ist die neue Sprache, der zweite, die Arbeit, der dritte Stab ist die Familie und der letzte Stab hindert ihn daran, einen blauen Himmel zu finden, um frei fliegen zu können.
Der Flüchtling ist der Vogel, der es schafft, alle paar Jahre einen von diesen Stäben einzureißen. Er ist derjenige, der voller Mut und Einsatz drei dieser Gitterstäbe entfernen kann. Und als er den vierten Stab einreißen kann, schaut er mit sehnsuchtsvollen Augen in den blauen freien Himmel, aber seine Flügel haben ihn im Stich gelassen.
Der Flüchtling versteht in diesem Augenblick, dass die Hälfte seines Lebens schon vorbei ist und er kein Vogel mehr sein kann.
Der Flüchtling war der Vogel, der einen Käfig gegen den anderen getauscht hat, immer darauf hoffend, dass er einmal frei unter dem blauen Himmel fliegen kann.
- Stumm
Wenn die Steine der Straße nicht mit deinen Füßen reden. Wenn die Wände dir die Zunge rausstrecken. Wenn die Häuser ihre Läden vor Dir zugemacht haben. Und wenn Du kein Wort von den Menschen verstehst. Und wenn sie kein Wort von Dir verstehen. Wenn deine Augen nur den Nebel sehen. Wenn ein Draht deine Zunge zuschnürt. Wenn du das Gefühl hast, dass Ameisen über deinen Kopf laufen. Wenn du taub, stumm und blind bist und immer Tränen in den Augen hast.
Dann weißt du, dass du auf der Flucht bist
Die Literatur der Bergvölker- Kurden in vier Ländern – eine Kulturnation?
Herman Schulz mit Halim Youssef im Engelshaus-Wuppertal
Di., 04. Oktober 2016, 19:30 Uhr
- Sind die kurdischen Sprachen so verwandt, dass ihr euch untereinander verstehen könnt?
Die kurdische Sprache ist eine indoeuropäische Sprache und hat mehrere Dialekte. Es gibt zwei Hauptdialekte erstens:
Kurmandschi – wird in Syrien und Türkei, Teil von irakischem Kurdistan, sowie in Armenien und in einigen Gebieten im Iran gesprochen
Kurmandschi wird mit Lateinischem Alphabet geschrieben (außer Iran)
Zweitens: Sorani – Sorani wird in Iran und Teil von Irak gesprochen und wird mit Aramäische oder dem arabischen Alphabet geschrieben.
Die beiden Dialekte haben sich fast als selbständige Sprache entwickelt, weil Kurdistan als Kolonie zwischen Vier Staaten geteilt wurde. Die kurdische Sprache war unterdrückt und galt als verbotene Sprache. Und das gilt immer noch in Osttürkei, Deswegen gab es kaum Kommunikation zwischen den Kurden in diesen Vier Ländern, lange Zeit fand sie nicht statt.
Diese tragische Situation hat sich In den letzten Zeiten durch den positiven Einfluss der kurdischen Medien – Z.B Fernsehen und Internet – verbessert, die Kurden könnten mehr und besser einander verstehen.
2.) Die Religionen der Kurden: Islam, Alewiten, Christen? Sonstige?
Die Kurden sind durch Gewalt islamisiert worden. Die größte Gruppe sind Sunniten, Zweitgrößte Gruppe sind Alewiten. Die einzige Religion, die die kurdische Sprache verwendet also kurdisch- kurmandschi, ist bei den Gebeten und religiösen Ritualen ist „die Jesiden“. Außerdem gibt es unter den Kurden Christen und Juden. Aktuell leben sehr wenig Juden in Kurdistan, die meisten sind nach Israel oder USA ausgewandet, bzw. vertrieben worden.
3.) Kurden in vier Ländern. Wie geht die Kommunikation zwischen den Literaten?
Wegen der politischen Situation könnte die Kommunikation zwischen den Literaten in den vier Ländern kaum stattfinden. Die Intellektuelle Kurden haben im Exil mehrmals versucht, eine Kommunikation zu begründen, aber alle Versuche sind gescheitert.
In den letzten Fünf Jahren haben einige Verleger Romane von Sorani ins Kurmandschi und umgekehrt übersetzt und herausgegeben.
Z.B Endeshe- Verlag in Sulaymani (Kurdistan – Irak) und Avesta – Verlag in Türkei- Istanbul)
4.) Deine persönliche Geschichte als Autor in Syrien
Die kleine Stadt Amude, wo ich geboren und aufgewachsen bin, liegt am Grenzgebiet zwischen Syrien und Türkei. Meine Mutter kam von der syrischen Seite und mein Vater von der türkischen Seite.
Die Grenze war dicht mit Minen, Stacheldraht und Wachtürmen von türkischer Seite gesichert. Diese Situation war der Grund, dass ich als kleines Kind keine Antwort für meine großen Fragen finden könnte. Die Suche nach Antworten auf diese schwierigen Fragen, die mich lange beschäftigt haben, führten mich zur Literatur, da konnte ich einige Antworte finden.
Ich habe meine Werke in zwei Sprachen geschrieben, die amtliche arabische Sprache und die unterdrückte und verbotene Muttersprache – Kurdisch.
In der Zeit, als ich in Syrien lebte, habe ich vier Bücher in beiden Sprachen veröffentlicht. Jedes Buch hat seine eigene Geschichte.
Es gab Verbote von staatlicher Seite, dann war ein Problem die Grenzen zwischen Libanon, der Türkei und Syrien; arabisch geschriebene Bücher und kurdische wurden nicht akzeptiert.
5.) Wo erscheinen die Bücher der Autoren?
Kurdistan – Irak: ab 1991
Türkei – Istanbul – Diyarbakir: ab 1992
Exil – Schweden und Deutschland
6.) Gibt es heute einen grenzübergreifenden Vertrieb?
Nein
7.) Welche Rolle spielt die Literatur für die Identität als Kurde?
Wenn ich an den Begriff Identität denke, fällt mir sofort die Sprache ein.
Wie gesagt, die kurdische Sprache war verboten, deshalb hat die kurdische Bevölkerung kaum geschriebene Literatur gekannt. Eine große Rolle für die Entwicklung die Identität hat die orale oder mündliche Literatur gespielt, von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

8.) Was sind die besonderen Kennzeichen der kurdischen Literatur?
Das wichtigste Kennzeichen der kurdischen Literatur ist die kurdische Sprache. Alles was nicht auf Kurdisch geschrieben ist, rechnen wir nicht zur kurdischen Literatur.
Außerdem, der Kurmandschi schreibende Schriftsteller, ist sicher der einzige Schriftsteller in den ganzen Welt, vielleicht, der Zuhause und heimlich seine Sprache lernt und Literatur in dieser verbotene Sprache schreibt.
Ich habe nie in meinem Leben einen kurdischen Lehrer gehabt und trotzdem konnte ich bis heute Vier Romane und Fünf Kurzgeschichten-Bände veröffentlichen.
Das betrifft nicht nur mich, sondern alle meine kurdisch –kurmandschi schreiben Schriftsteller-Kollegen.
Deutsch-syrische Lesung mit Hermann Schulz und Halim Youssef – im Missionshaus- Wuppertal
Deutsch-syrische Lesung mit Hermann Schulz und Helim Yusiv
zum Thema Flucht im Missionshaus- Wuppertal
Fluchtgeschichten im Barmer Missionshaus der VEM „Vereinte Evangelische Mission“
(26.01.2016). Das Missionshaus in der Rudolfstraße wurde am gestrigen Montag zum Treffpunkt einer besonderen Veranstaltung: Im Rahmen der VEMKampagne „Zuflucht ist ein Menschenrecht“ kamen der bekannte Wuppertaler Schriftsteller Hermann Schulz und der syrisch-kurdische Autor Helim Yusiv zu einer gemeinsamen Lesung von Flucht-Geschichten in das interkulturelle VEMHaus. Helim Yusiv, 1967 im Norden Syriens geboren, ist studierter Jurist und wohnt seit dem Jahr 2000 in Deutschland. Als Verfasser von Kurzgeschichten und Romanen war Yusiv in Syrien bis zu seiner Flucht geheimdienstlichen Repressionen allein aufgrund der Tatsache ausgesetzt, dass er seine Texte in der verbotenen kurdischen Sprache publizierte. In Deutschland arbeitete der Schriftsteller lange Zeit als TV-Moderator kurdischer Literatursendungen. Seit einigen Jahren ist Helim Yusiv hauptsächlich als Integrations- und Sprachmittler tätig. Der in Ostafrika geborene Schriftsteller, vormalige Verlagsleiter und leidenschaftliche Erforscher fremder Kulturen Herrmann Schulz stellte außerdem die Initiative „Ich rede um mein Leben“ vor, die von ihm und den Wuppertaler Bühnen ins Leben gerufen wurde. Im Rahmen dieses Projekts werden gegenwärtig syrische Schriftsteller gebeten, ihre Fluchtgeschichten zu erzählen und dadurch erfahrbar zu machen. Ziel ist es dabei, die menschlichen Schicksale hinter den Flüchtlingsstatistiken sichtbar zu machen. Auf welche Weise die Fluchtgeschichten verarbeitet und veröffentlicht werden, steht noch nicht fest – angedacht ist ein Radiofeature oder Bühnenstück. Angesichts der jüngsten Vorkommnisse in der Silvesternacht appellierte Schulz an die Besucher, das große bürgerschaftliche Engagement in Deutschland wertzuschätzen, mit dem bereits viel erreicht wurde. Er wünschte sich ein Zusammenleben in Würde. Das Publikum wurde in die Veranstaltung mit einbezogen und dankte der Veranstalterin dafür, geflohene Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen. Zudem wurde Yusiv gebeten, seine Texte auch in Deutschland bald zu publizieren. Begleitet wurde die Lesung von dem syrischen Musiker Firas Aldani, der Eigenkompositionen auf seiner arabischen Laute spielte. Die Veranstaltung endete mit einem Imbiss aus der arabischen Küche.
„Fluchtpunkt Frieden“: Künstler gegen den Krieg – TEXTE UND MUZIK ZUM ANTIKRIEGSTAG
WESTDETSCHE ZEITUNG
2. September 2020
TEXTE UND MUZIK ZUM ANTIKRIEGSTAG
„Fluchtpunkt Frieden“: Künstler gegen den Krieg
Veranstaltung der Armin T. Wegner-Gesellschaft erinnerte an den Überfall der deutschen Wehrmacht und damit den Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Von Kristina Hinz
Helîm Yûsiv (Halim Youssef) aus Amude, Syrien, berichtete von seinem Zug des Lebens. „Ein Zug … und drei Länder“ ist seine Allegorie an die Nachwirkungen der Flucht – sie alle vereint eine herausfordernde Erfahrung.…
„Abrüsten statt Aufrüsten! Waffenlieferungen stoppen! Krieg verhindern – Fluchtursachen vermindern“ – die Botschaft, die anlässlich des Antikriegstages am Dienstag vermittelt werden sollte, ist eindeutig. „Fluchtpunkt Frieden“ hieß die Veranstaltung der Armin T. Wegner-Gesellschaft, bei der am 1. September Wuppertaler Musiker und Schriftsteller an den Überfall der deutschen Wehrmacht und damit den Beginn des Zweiten Weltkriegs erinnern. 75 Jahre liegt der Krieg zurück, der Millionen Menschen das Leben kostete. Etwas, das es nicht zu wiederholen gilt.
Das Aufrüsten geht dennoch weiter – und das trotz gesundheitspolitischer Herausforderung durch das Coronavirus. Trotz der weiterhin bestehenden Anforderungen des Klimaschutzes, trotz Flüchtlingsthematik. Mit „etwa 45,2 Milliarden Euro“ beziffert das Bundesministerium der Verteidigung auf seiner Homepage den diesjährigen Verteidigungshaushalt. Ein Umstand, auf den die Redner, Oberbürgermeister Andreas Mucke und Guido Grüning, Vorsitzender des DGB Wuppertal, aufmerksam machten. Im Export deutscher Waffen in Kriegsgebiete sieht Mucke die Fluchtursachen. „Wir führen keinen Krieg in Europa, wir exportieren ihn“, gab Grüning zu bedenken. „Von deutschem Boden aus muss Frieden ausgehen“, legte der Oberbürgermeister nahe. Den Zusammenhalt und das Zusammenleben, dessen Basis die Kommunen bilden, betonte er.
Info
Die Veranstaltung mit Beteiligung des Oberbürgermeisters Andreas Mucke und des DGB-Vorsitzenden wurde in diesem Jahr von der Armin T. Wegner Gesellschaft veranstaltet. Das künstlerische Programm wurde gemeinsam mit dem Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller gestaltet.
Respekt und Solidarität – diese Werte waren in den literarischen und musikalischen Beiträgen des Abends fest verankert. Mit starker Stimme von Ulrich Klan, Vorsitzender der Armin T. Wegner-Gesellschaft, und klangvoller Untermalung mit Robert Dißelmeyer am Klavier, Jörg Dausend am Schlagzeug und Lukan Lehmann am Bass wurden die politischen Statements für den Frieden unterstrichen. So wurde „Le Deserteur“ von Boris Vian in deutscher Sprache gesungen: Es ging um das Verweigern des Schießbefehls. „Desertieren ist eine Form, um den Krieg zu behindern“, machte Klan deutlich und nahm Bezug zu Vorgehensweisen im Nahen Osten – der Zwangsrekrutierung von Minderjährigen.
Beiträge mit persönlichen Eindrücken
„Frieden bekommen wir nicht, indem wir mit Steinen schmeißen“, hob er einen gewaltlosen Umgang hervor. John Lennons „Imagine“, seine Vision einer friedlichen Gesellschaft, und Bob Dylans Protestlyrik gegen den Aufbau von Atomwaffen mit Nachrichtung von Ulrich Klan waren wohlgewählte Musikstücke der Veranstaltung, dessen Auftakt ein arabisches Trauerlied machte.
Die schriftstellerischen Beiträge gaben persönliche Einblicke wieder. Denn alle Autoren stammen aus Kriegsgebieten. Alaa Al Rashi wurde in Syriens Hauptstadt Damaskus geboren, sein Essay über die Situation der Kurden in Damaskus hat seine Tochter Sham Al Rashi vorgelesen. Safeta Obhođaš las aus ihrem Buch „Legenden und Staub“ und gab so einen Einblick in ihre Fluchterfahrung. Sie stammt gebürtig aus Pale und wuchs in Bosnien und Herzegowina auf.
Helîm Yûsiv aus Amude, Syrien, berichtete von seinem Zug des Lebens. „Ein Zug … und drei Länder“ ist seine Allegorie an die Nachwirkungen der Flucht – sie alle vereint eine herausfordernde Erfahrung.
Christiane Gibiec vom Schriftstellerverband und Ulrich Klan war es wichtig, Betroffenen eine Stimme zu geben.

Lesung mit dem syrisch-kurdischen Autor Halim Youssef – Opernhaus – Wuppertal
Lesung mit dem syrisch-kurdischen Autor Halim Youssef
Opernhaus – Wuppertal-26. Mai 2016
Wuppertaler Literatur-Biennale 2016 – Kulturmagazin Musenblätter
Die ersten Tage – von Jürgen Kasten
Während ich das hier schreibe, ist die Wuppertaler Literatur Biennale drei Tage alt und hat bereits neun Veranstaltungen hinter sich. Alle Veranstaltungen zu besuchen ist also nicht möglich – leider. Immerhin konnte ich am 26. Mai zwei Lesungen beiwohnen.
Um 11 Uhr stellte Hermann Schulz im Foyer des Opernhauses den syrisch-kurdischen Schriftsteller Helîm Yûsiv vor. Der Name ist ein Pseudonym. Yûsiv wurde 1967 in der kurdischen Stadt Amude in Syrien geboren. Er veröffentlicht seine Bücher in kurdischer Sprache und auf arabisch. Kurdisch wird in keiner Schule gelehrt, ist als Amtssprache verboten. Sie zu verstehen, zu lesen und zu schreiben, hat Helîm Yûsiv zu Hause bei seinen Eltern gelernt.
Keineswegs verbittert, eher anekdotisch erzählte er von den Schwierigkeiten, seine Bücher unters Volk zu bringen. Nachdem das mit seinen ersten beiden Büchern in Syrien nicht gelang, dachte er sich für das dritte einen Trick aus. Gedruckt wurde es in Syrien, das Impressum aber gaukelte eine Herstellung in Beirut, Lybien, vor. Mit bezahlten Schmugglern wurde es sodann über die Grenze hin und her gebracht und ist nun in Syrien als libysches Buch erhältlich.„Ich schreibe über ein Land, das vom Wagen der Geschichte gefallen ist und dann von der Geografie in beide Ohren gebissen wurde“, sagt der Autor.
„Zuflucht ist ein Menschenrecht“ war der Titel der Veranstaltung im Opernhaus. Helîm Yûsiv flüchtete im Jahr 2000, lebte zunächst in Berlin, erhielt dann eine Anstellung als Moderator eines kurdischen Senders in Wuppertal, wo er nun mit seiner Familie im Exil lebt. Ein Erzählband wurde bisher ins Deutsche übersetzt und liegt im Unrast Verlag vor (Der schwangere Mann, ISBN: 978-3-89771-853-1). Mit Hilfe seines Freundes Hermann Schulz sollen weitere folgen.
Einige Gedichte und eine Kurzgeschichte las Yûsiv sodann vor. Er hatte sie zusammen mit Freunden selber übersetzt.
Seine Lyrik erzählt von Flucht, Angst und Einsamkeit, der Tod ist immer gegenwärtig. Seine Kurzgeschichte spielt zu einer Zeit, zu der er als Jurastudent in Aleppo eine winzige Kammer in einer Wohngemeinschaft sein eigen nannte. Die Mitbewohner betätigten sich konspirativ politisch. Als sie eines Tages seine Kammer einmal wöchentlich für sich einforderten, glaubte Helîm, er gehöre nun endlich zu ihrem Kreis und trage zum politischen Umbruch in seinem Heimatland bei. Sein Glaube reichte nur bis zu diesem Tag, an dem er feststellen musste, daß die Kameraden das Zimmer nur benötigten, um sich dort wechselseitig mit Mädchen zu vergnügen.
Eine heitere Geschichte mit bitterem Hintergrund.
In der anschließenden Diskussion, in der er gefragt wurde, wie er die Lage in der Türkei einschätze, in der er auch eine Zeitlang lebte und in der die Kurden auch unterdrückt werden, antwortete Helîm Yûsiv: „Die Türkei hat ein Problem und das Problem heißt Erdogan.“
Seine Vorstellung wurde mit viel Applaus gefeiert und fand im vollbesetzten Saal ungeteilte Zustimmung.
Ebenso die anschließend vorgeführten drei Kurzfilme, die Andreas von Hören vorstellte. „Hin und weg“, preisgekrönte Filme des Medienprojektes Wuppertal, hergestellt von jungen Leuten, dokumentieren die katastrophalen Zustände in einem Lager in Calais, von wo aus überwiegend junge Flüchtlinge versuchen, nach England, zu ihren Angehörigen zu gelangen.

Lachen und Angst- Helîm Yûsivs Erzählband „Der schwangere Mann“
Lachen und Angst
Helîm Yûsivs Erzählband „Der schwangere Mann“
Die Berliner Literaturkritik, 16.06.04
Judith Wolf
Helîm Yûsiv ist ein kurdischer Schriftsteller, der aus Amûde im kurdischen Teil Syriens stammt und als politischer Flüchtling in Deutschland lebt. Das erste seiner fünf, bisher auf Kurdisch, Arabisch und teilweise auch auf Türkisch erschienenen Bücher liegt nun in deutscher Sprache vor: „Der schwangere Mann“ – ein Kurzgeschichtenband.
Mit seinen Erzählungen, die im syrischen Teil Kurdistans spielen, über den weitaus weniger bekannt ist als über den kurdischen Teil der Türkei und des Iraks, möchte uns der Autor, wie er im Vorwort selbst sagt, an die Hand nehmen und „an die Orte führen, die nicht nur vom Staat, sondern auch von Gott vergessen wurden“. Helîm Yûsiv stellt uns die Menschen und Orte seiner Heimat in einer sehr einfachen, gut lesbaren und – zumindest im kurdischen Kontext – geradezu unverschämt direkten Sprache vor, die gleichzeitig von überwältigender Symbolkraft ist und eine beißende Ironie in sich birgt.
Außergewöhnlich werden Helîm Yûsivs Geschichten dadurch, dass er nicht einfach nur, wie es unter kurdischen Schriftstellern sehr verbreitet ist, die dramatische Geschichte und Unterdrückung der Kurden durch die jeweiligen Staaten in ein literarisches Gewand hüllt, sondern deren Verwicklung mit Problemen innerhalb der kurdischen Gesellschaft zur Sprache bringt. Seine Geschichten berühren Themenfelder wie Religion, Politik, Geschlechterbeziehungen und eine damit verbundene Doppelmoral. Dabei ordnet er sich keiner vorgegebenen gesellschaftlichen Ideologie unter: Nicht gesellschaftliche Normen, nicht das, was sein sollte, sein könnte oder moralisch richtig wäre, spiegelt sich in seinen Geschichten wieder, sondern genau das, was er in seiner Umgebung als Tatsachen wahrnimmt – und das spricht Yûsiv unverblümt aus. Für diese Direktheit musste der Autor dann auch seinen Preis zahlen: Einige Personen aus seiner Heimatstadt Amûde, die sich in seinen Geschichten wiedererkannten, haben ihm seine Offenheit mit Prügel vergolten.
Geschichten ohne Kleidung, völlig nackt
Der auf dem Einband zitierte Kommentar von Xalid Xalîfe trifft den Nagel auf den Kopf: „Die Geschichten aus ‚Der schwangere Mann‘ kommen ohne Kleidung, ja selbst ohne Flicken, das heißt völlig nackt, zu uns.“ Diese Nacktheit der Geschichten springt einem tatsächlich mitten ins Gesicht und lässt einen nicht mehr so schnell los. Auf dem Spaziergang durch Helîm Yûsivs Erzählungen überkommen einen, kaum dass man über eine witzige Formulierung vor Lachen fast platzt, im nächsten Augenblick schon wieder Tränen.
Die Erzählungen in „Der schwangere Mann“ sind fünf Elementen zugeordnet. Genauer gesagt sind dies die vier Elemente aus der griechischen Naturphilosophie – Erde, Wasser, Feuer, Wind (Luft) –, die hier als allen Menschen gemeinsam gelten. Diesen fügt der Autor noch ein fünftes Element, das Blut, hinzu, welches die blutige, von Kolonisation, Krieg, Verfolgung und Tod gezeichnete Geschichte und Gegenwart der Kurden symbolisiert und die Differenz zu allen anderen Menschen markiert.
Die der Erde zugeordneten drei Erzählungen sind Milieugeschichten über Menschen in Südwestkurdistan (Syrien), stehen aber auch exemplarisch für das Leben in einer orientalischen Gesellschaft allgemein. Hierzu gehört die Geschichte „Der schwangere Mann“, die auch dem gesamten Erzählband den Namen gab. Das Schwangersein eines Mannes, ein unnatürlicher Zustand, der schlicht und ergreifend unmöglich ist, steht für die Absurdität des Lebens der Kurden in Syrien.
Selbst die Liebe bringt Verrat
Die Hauptrolle in den folgenden vier Geschichten, die dem Element Wasser zugeordnet sind, spielt jeweils ein Sufi (im Kurdischen Sofî). Sufis sind von einem Þêx ausgewählte gläubige Menschen, die trotz ihres Ansehens unter den Muslimen Kurdistans sehr arm sind und nach Ansicht des Autors vielleicht deswegen nicht selten dazu verleitet werden, die Gläubigen zu hintergehen. In allen vier Geschichten geht es um den nicht greifbaren Charakter dieser Sufis, einen Charakter, der einem wie Wasser durch die Finger rinnt, sobald man glaubt, ihn in der Hand zu halten. Am schönsten ist vielleicht die Geschichte „Die rätselhafte Ziege“, welche die Ehre (namûs) thematisiert.: Sie stellt uns Sofî Qorzîk vor, der bei dem Versuch, seine Ehre – ob nun in Gestalt seiner Tochter oder einer Ziege – wiederherzustellen, am Ende selber wie ein dummes Tier, nackt, mit langem Bart und auf allen Vieren mit einer Schafherde umherirrt und Gras frisst.
Im Zentrum des Buches findet sich, dem Element Blut zugeordnet, die wohl schmerzhafteste Geschichte des Bandes: „Mem erwacht vom Tod“. Als der aus dem kurdischen Epos „Mem û Zîn“ bekannte Mem nach langem Schlaf vom Tod erwacht, liegt seine geliebte Zîn nicht mehr neben ihm im Grab. Auf der Suche nach seiner Liebe findet er sich dort, wo einst sein Land Kurdistan, das Fürstentum Botan, blühte, in einer abgrundtiefen Hölle wieder: Das Land ist ausgetrocknet, von fremden Soldaten übersäht, das Leben besteht aus Angst, Verrat und Tod. Selbst die Liebe bringt Verrat und Tod Aber Mem, der tote Irre, liebt!
Im vierten Teil, der dem Feuer gewidmet ist, begegnet man Menschen mit großen Träumen von Liebe, Freiheit oder sonstigem, die sie unter den gegenwärtigen Bedingungen niemals erreichen können. Das Feuer symbolisiert die Situation in Kurdistan, die jeglichen menschlichen Traum verbrennt. So erzählt zum Beispiel „Das Dreieck und das Viereck“ von einem Intellektuellen, der von einem verantwortungsvollen Posten, der ihm öffentliches Ansehen einbringt, einer schönen, nackten Frau und viel Geld träumt. Auf der Suche nach seinen Träumen, von denen sich kein einziger erfüllt, wird er von der grausamen Realität eingeholt, einem äußerst brutalen Folterinstrument aus dem osmanischen Reich.
Keine Luft zum Leben
Um in Frieden und Freiheit leben zu können, brauchen Menschen Luft zum Atmen. Dafür steht der Wind. Die dem Wind zugeordneten vier Geschichten handeln von der Unterdrückung in Kurdistan, die den Menschen den Atem raubt. Es gibt keine Luft zum Atmen, keine Luft zum Leben, keine Luft zum Lieben, keine Luft, um als Mensch zu handeln. „Biographie eines Schuhs“ etwa erzählt von der katastrophalen Situation, dass Menschen eigentlich nur Respekt voreinander haben, solange sie einander irgendwie für irgendeinen Zweck benutzen können. Sobald jemand aber einen anderen Menschen nicht mehr braucht, wirft er ihn weg wie einen alten Schuh. Auch die letzte Geschichte des Bandes, „Die Welt ist enger als eine Toilette“, erzählt davon, dass man eigentlich nirgends in Ruhe atmen oder auch nur seinen Gedanken nachhängen kann, außer auf der Toilette – und selbst dort holt einen die Verfolgung ein: Die Toilette, der Ort der letzten Zuflucht, wird plötzlich zu einem riesigen Mund mit Zähnen. Selbst hier wird man am Ende gejagt, zermalmt und gefressen.
Mit „Der schwangere Mann“ eröffnet Helîm Yûsiv ungewöhnliche Innenansichten kurdischen Lebens. Eine gleichermaßen tiefgreifende und kurzweilige Lektüre, die sich lohnt – sowohl für Menschen, die einfach gern lesen, als auch für jene, die sich professionell mit der Analyse der kurdischen Gesellschaft befassen. (Judith Wolf)
Literaturangaben:
YUSIV, HELIM: Der schwangere Mann. Erzählungen. Übersetzt aus dem Kurdischen von Heidi Karge. Unrast Verlag, Münster 2004. 161 S., 14 €.
Helîm Yûsiv erzählt Geschichten aus dem kurdischen Teil Syriens
Sauerstoff auf Urlaub – Dirk Ruder
Von Gott und der Politik verlassen: Helîm Yûsiv erzählt Geschichten aus dem kurdischen Teil Syriens
Dirk Ruder
junge Welt vom 23.10.04
Unnachahmlich reden Helîm Yûsivs Charaktere. Manchmal stellen sie sich dem Leser selbst vor: »Ja, ich bin’s. Ich bin der Hecî, über den die Frauen des ›Bezirks der Mullahs‹ immer reden. Es scheint so, als kämen sie meinetwegen jeden Tag auf der Straße zusammen.« So läßt Yûsiv in seinem Erzählband »Der schwangere Mann« seinen Protagonisten die Geschichte über »Liebe ohne Hand und Fuß« beginnen. Unversehens ist das Publikum hineingerutscht in die Geschichte, in der es eigentlich gar nicht um Hecî geht. Man hockt – »als wären zweihundert Hühner zusammen in einen kleinen Hühnerstall gesperrt worden« – bei den tratschenden Frauen des Mullah-Bezirks, die dem ungeschickt vorbeistolpernden jungen Mann auch noch hinterherrufen: »Ja, Hecîko, alle Versammlungen und Konferenzen der Frauen werden über dich abgehalten.« Wer wollte bei einer solchen Szene nicht dabeisein?
Wir sind im kurdischen Teil Syriens, in dem eine starke und lebendige Tradition mündlichen Erzählens die Literatur geformt hat. Dramaturgischer Schnörkel bedarf sie nicht; sie springt ohne viel Federlesens durch Zeit und Raum und bezieht ihre Stärke meist aus dem Dialog. Alles andere ist Handwerk und Talent. Beispielsweise wenn Helîm Yûsiv seine hypochondrische und abergläubische Großmutter vorstellt: »Wenn meine Großmutter eine Medikamentendose sah, verlor sie immer den Kopf. Sie fand keine Ruhe, bis sie nicht alles heruntergeschluckt hatte. Es war ihr egal, ob weich oder hart, ob als Tropfen oder ob es überhaupt zum Einnehmen war oder nicht … Alles, was sie finden konnte, legte sie auf ihren Fuß: Tomatensaft, Katzen- und Hasenfell, Sperlingsfedern, Glassplitter, Seife, eine lebendige und eine tote Eidechse, eine Maus, Küken, Hundeschwänze, zerhackte Knochen und noch viele andere Sachen, die ich hier nicht nennen kann, weil ich mich schämen würde. Mit all diesen Sachen auf ihrem Fuß betete sie auf ihrem Kaftan.«
Seit vier Jahren lebt Yûsiv als politischer Flüchtling in Deutschland. 1967 als jüngstes von acht Kindern in einer nordsyrischen Kleinstadt geboren, kennt ihn die kurdisch- und arabischsprachige Welt seit mehr als zehn Jahren als begnadeten Erzähler. In beiden Sprachen erschienen in den 90er Jahren der Kurzgeschichtenband »Die Frau im hohen Stockwerk« und der Roman »Sobarto«. Die Sammlung »Die Toten schlafen nicht« kam 1998 in Istanbul zudem auf Türkisch heraus. »Der schwangere Mann« ist Yûsivs erstes Buch, das er 1991 im Alter von 24 Jahren in Damaskus veröffentlichte. Heidi Karge hat es nun in Kooperation mit dem Autor ins Deutsche übersetzt. »Nach der Erstveröffentlichung mußte ich erleben, wie vier kräftige Männer mir den Weg abschnitten und mich verprügelten. Die Geschichte, die sich danach abspielte, ist lang. Während andere Schriftsteller nach einer Buchveröffentlichung mit Anerkennung oder Auszeichnung rechnen, erhielt ich meinen ›Preis‹ an diesem Tag in einer Straße in Amûdê«, schreibt der Verfasser im Vorwort.
Wenn Yûsiv seine Leser in die Gegenden führt, »die nicht nur vom Staat, sondern auch von Gott vergessen wurden und in denen bis zum Jahr 2000 Handys und das Internet verboten waren«, ist klar, daß keine Märchen aus 1 001 Nacht zu erwarten sind – auch wenn der Autor seinen Kurzerzählungen Titel wie »Der fliegende Bart«, »Das verliebte Skelett« oder »Die Tritte des weißen Esels« verleiht. Die Allmacht von Staat, Geheimdienst und Militär ist allgegenwärtig. In symbolhafter Form oder konkret. Sie trifft einfache Bauern, und sie trifft Toilettenhäuschen, die als Orte subversiver politischer Botschaften so gut wie nicht kontrollierbar sind. »Ich frage mich immer, warum die Menschen in unserer Stadt keine Revolution für die Errichtung neuer Toiletten machen«, läßt Yûsiv den Ich-Erzähler in »Die Welt ist enger als eine Toilette« klagen, der letzten Geschichte des Bands. »Solche Toiletten müßten so stabil sein, daß Bulldozer sie nicht gleich zerstören können, wenn regierungsfeindliche Sätze an der Innenseite der Tür stehen, die so harmlos waren wie: ›Toiletten sind die Plätze der Demokratie unserer Dritten Welt.‹«
Er sei nicht von der Idee zu überzeugen, die Welt sei ein kleines abgeschlossenes Dorf, gibt der Autor seinen Lesern als Lektürehinweis mit auf den Weg. Aber man darf sich nicht täuschen. Trotz Handy und Internet wissen wir so gut wie nichts über die Kurden im nördlichen Syrien. Mit Helîm Yûsivs Geschichten können wir deren Leben zumindest erahnen und vielleicht verstehen, warum der Autor die dringende Hoffnung ausdrückt, die Männer, die ihm vor Jahren auf der Straße den Weg versperrten, mögen niemals erfahren, »daß ihr über sie in deutscher Sprache lesen könnt. Sie würden sonst auf jeden Fall bereuen, daß sie mich lebend entkommen ließen«. Mit tollwütigen Eseln muß sich eben nicht nur das vermutlich gar nicht so fiktive Personal in Helîm Yûsivs Erzählungen herumplagen.
Helîm Yûsiv
Der schwangere Mann
Erzählungen
Edition arArat Bd. 4
ca. 160 Seiten, Hardcover, ca. 14 Euro
ISBN 3-89771-853-7
Heimatverlust, eine musiktheatrale Aufführung von dem Autor Halim Youssef
Schauspielhaus – Wuppertal 2018 (Video)
https://www.facebook.com/helim.yusiv/videos/10156309049993718
Peter Pionke
WUPPERSPUREN präsentieren neues Stück: Hauptbahnhof der Welt
Wuppertal, 07.05.2018 – Mit der Unterstützung von Oper Wuppertal proben die Mitstreiter von WUPPERSPUREN seit Monaten in der „alten Feuerwache“ an ihrem neuen Programm.
Das neue Stück ist eine musiktheatrale Aufführung von dem Autor Helim Yusiv mit Texten, Szenen und musikalischen Beiträgen zum Thema Flucht, Exil und Neuverortung in Kooperation mit der Theaterinitiative Wupperspuren und dem Damaskus String Quintet of Syrian Expat Philharmonic Orchestra.
Mit Jürgen Kasten, Ahmed Abdulateef, Mohammad Abdullah, Taha Alazzawi, Gafer Alibrahim, Jin Almohammad, Abdulrazak Azouz, Agîd Bahram, Daniel Becker, Eva König, Jan Nicolay, Yasemin Peken, Nora Pösl, Hussein Shahin, Antje Wiegand u.a.
WUPPERSPUREN ist eine ehrenamtliche, freie Theaterinitiative. Das Angebot richtet sich an alle Menschen ab fünfzehn Jahren, die derzeit in Wuppertal leben und Lust haben, gemeinsam Theater zu spielen. „Wir verstehen unsere Gruppe als Ort der Begegnung, an dem Menschen mit und ohne Flucht- bzw. Migrationserfahrung zusammenkommen. Im Zentrum, steht die gemeinsame Erfahrung, in unserer Stadt Wuppertal Spuren zu hinterlassen.“
WUPPERSPUREN probt wöchentlich in der Alten Feuerwache (Gathe 6, 42107 Wuppertal, Raum Alte Wagenhalle). Es ist jederzeit möglich, bei den WUPPERSPUREN einzusteigen und mitzumachen. Sei es als Schauspieler*in, Techniker*in oder in der Organisation – in der Gruppe gibt es sehr viele spannende Aufgaben und Rollen. Alle Menschen ab fünfzehn Jahren sind herzlich willkommen.
www.wupperspuren.de
Halim Youssef erhält den kurdischen Romanpreis 2015 in Sulaymaniyah im irakischen Kurdistan
RonahiTV (in Kurdisch) – Video
Helîm Yûsiv erhält den kurdischen Romanpreis 2015 in Sulaymaniyah im irakischen Kurdistan/ Mit Bachtyar Ali
19.11.2015