Bei der 26. Lesung war Halim Youssef auf dem literarischen „Cronenberg“ zu Gast - Halim Youssef

Bei der 26. Lesung war Halim Youssef auf dem literarischen „Cronenberg“ zu Gast

Juni 13, 2021

Sa., 05. Mai 2018 um 17:00 Uhr

Die Geschichten erzählen von Vertreibung, Flucht und Angst; aber so humorig geschrieben, dass man trotz des ernsten Hintergrundes immer darüber lachen muss.

Revolutionen in einem winzigen Zimmer

Eine Kurzgeschichte von Halim Youssef

In meinem ersten Jahr als Student in Aleppo kannte ich nur die Freunde meines grossen Bruders, die dort schon seit langer Zeit studierten. Ich zog zu ihnen in ihre kleine Wohnung, in der wir zu viert wohnten. Ich bekam eine winzige Kammer, in der nur ein Bett stand. Aber ich hatte es dort sehr bequem, denn ich mußte nicht kochen, was ich ja auch nicht konnte. Dafür mußte ich für alle die Zeitungen und Zeitschriften besorgen.
Es störte mich aber, daß mich meine Mitbewohner immer als „den Kleinen“ ansahen. Sie hatten sogar Angst, daß ich in der großen Stadt verloren gehe: Ich kannte ja auch nur einen Weg, den Weg von zu Hause zur Universität.
Bei uns in der Wohnung wurde viel über Politik gesprochen. Eines Tages kam ein Mitbewohner zu mir:
„Ich möchte, daß du uns dein Zimmer überlässt.“
Ohne zu zögern, sagte ich zu, denn mir war sofort klar, worum es ging.
Ich erinnerte mich an die politischen Diskussionen, die sie mit meinem Bruder in Amude geführt hatten. Ich ging damals noch zur Schule und hörte von ihnen ständig ganz große Namen:
-Che Guevara, Scheich Seyit, Lenin, Barzani, Stalin und Lumumba.
Ich sagte mir immer:
„Mein Gott, wann bin ich endlich erwachsen, damit ich zur Universität gehen und dort mehr über diese Menschen erfahren kann.“
Ich brauchte sie wirklich nicht zu fragen, wozu sie meine Kammer haben wollten. Es reichte mir, zu hören, daß sie mein Zimmer fünf bis sechs Stunden brauchten.
Einmal verbrachte ich deswegen den ganzen Tag draußen auf der Straße. Ich weiß noch, wie ich mich verlaufen habe. Ich kam zu einem einsamen Ort ohne Leben, ohne Menschen und ohne Tiere. Dort waren nur Hochhäuser und Bäume und auf dem Boden lagen Blätter.
Ganz in Gedanken versunken lief ich glücklich durch die Stadt: Ich hatte den Genossen mit meinem Zimmer geholfen. Das gab mir das Gefühl, etwas für Kurdistan getan zu haben. Diese fünf bis sechs Stunden, in denen ich mein Zimmer nicht betreten durfte, erfüllten mich mit Zufriedenheit, denn ich hatte es ja wegen der Versammlung geräumt! Es gibt doch nichts Schöneres als das eigene Zimmer für die Heimat zur Verfügung zu stellen!
An diesem Abend fuhr ich mit dem Taxi nach Hause. Ich war schrecklich müde, und ich war mir auch ganz sicher, daß in meinem Zimmer heftig diskutiert wurde: Über verschiedene Meinungen, über die Partei und über Politik im allgemeinen. Sicher wurden auch wieder hundert von interessanten Namen erwähnt.
Zu Hause angekommen, war die Versammlung schon zu Ende. Aber als ich meine Bettdecke aufschlug, um mich hinzulegen, strömte mir ein göttlicher Duft entgegen. Ich verbrachte jene Nacht wie im Rausch. Ich weiß nicht mehr, wie ich geschlafen habe und welche Gedanken durch meinen Kopf spukten. Kam dieser berauschende Duft etwa vom Parteichef? Duften politische Versammlungen immer so gut oder war es nur diesmal so?
Von da an sollte ich jeden zweiten Tag mein Zimmer für ein paar Stunden räumen, und wegen der Wichtigkeit des Anliegens und – zugegeben – auch wegen des Duftes war ich sofort damit einverstanden.
Eines Tages kam ich etwas früher als sonst nach Hause. Ich hörte zunächst, wie jemand leise eine Tür öffnete. Dann vernahm ich ganz leise Schritte: Es war eine Frau! Jetzt verstand ich, was das für eine heftige und lange Versammlung gewesen sein musste. Jetzt wußte ich auch, woher die seltsamen Flecken auf meinem Bettlaken kamen. Von diesem Moment an war mein größter Wunsch, auch an solch einer Versammlung teilnehmen zu dürfen. Ich betete zu Gott: „Gott, zeig mir den Weg zu einer solchen Versammlung.“
Zehn Jahre später brachte mein Mitbewohner seinen kleinen Bruder zu uns in die Wohnung und sagte:
„Mein Bruder ist völlig naiv. Er ist ganz neu hier; Ihr müßt gut auf ihn aufpassen.“
Sicher hatte mein Bruder vor zehn Jahren zu seinen Mitbewohnern das Gleiche über mich gesagt.
Wir gaben dem Kleinen unsere Kammer und jeden zweiten Tag sagten wir ihm:
„Wir bitten dich, dein Zimmer zu räumen. Wir haben eine Versammlung….“