Rezension: 99 zerstreute Perlen Johanna Fischotter
Zeitschrift „Für Vielfallt“ – Januar 2024
Halim Youssef schreibt in einer Sprache, die ihm eigentlich in seiner Kindheit hätte ausgeprügelt werden sollen: Kurdisch.
Er ist in der nordsyrischen Stadt Amude in unmittelbarer Nähe der Grenze zur Türkei aufgewachsen. Mit Schlägen bestraften die Lehrkräfte jedes kurdische Wort, das ihm als Kind in der Schule über die Lippen kam. Und doch publiziert Halim Youssef heute auf Kurdisch. Jedes neue Buch ist ein kleiner Sieg gegen das Unrecht von damals – und je nachdem, wo sich Kurd*innen in den vier Teilen Kurdistans befinden, gegen das Unrecht heute. Youssefs Bücher sind etwas Besonderes, so auch sein neustes: 99 zerstreute Perlen.
Der Autor und sein Protagonisten Azado teilen einige Parallelen: etwa den Geburtsort, eine Leidenschaft für Übersetzungen, ein neues Leben in Deutschland. Der Roman liest sich wie Tagebucheinträge. So tauchen wir als Leser*innen unvermittelt ein in die verschlungenen Gedanken Azados. Es ist ein sehr ernstes Buch, das eine ganze Lebensgeschichte und mehr erzählt: von Heimat, Gewalt, Diskriminierung, Ankommen und Nichtankommen in Deutschland, von persönlichen Problemen und gesellschaftlichen. Dass der Text trotzdem nicht mit Themen überfrachtet wirkt und Leser*innen überfordert, schafft der Autor Halim Youssef, indem er jedes Kapitel durch eine Perle charakterisiert. So steht jedes Kapitel für sich und ergibt am Ende doch ein Ganzes.
Halim Youssef findet ganz wunderbare Worte, um etwa die Tätigkeit des Übersetzens zu beschreiben. Gleichzeitig fällt er harte Urteile. Der Roman „99 zerstreute Perlen“ lädt ein, die Perlen aufzulesen, über sie nachzudenken und im menschlichen Miteinander weiterzugeben.