Lesung: Halim Youssef im Theater am Engelsgarten
Fr., 04.11.2016, 19:30 Uhr
In einem „Syrischen Potpourri“ mit Christiane Gibiec, der Autor Halim Youssef liest aus seinen Werken:
- Kindermörder
Sarah war eine 32 jährige Mutter und saß in einem kleinen Ort zwischen Griechenland und der Türkei fest. Den Namen des Ortes kannte sie nicht. Was in den letzten zwei Tagen passiert war ließ ihr keine Ruhe mehr. Eine Sache beschäftigte sie besonders; es war der Mörder ihres Sohnes. Sarah wusste immer noch nicht wie alles passieren konnte. Ihre Erinnerung reichte nur bis zu einem bestimmten Punkt zurück, danach war alles schwarz, nichts, es gab keine Erinnerung. Sie konnte sich noch erinnern wie sie sich mit 15 Menschen in ein Boot quetschte, dass gerade Platz für fünf hatte. Es gab ihr Hoffnung, dass in dem Boot noch zwei weitere Mütter mit Kindern waren. Das nächste woran sie sich erinnern kann, ist wie die Menschen im Boo laut durcheinander geschrien haben. Sie konnte nur verstehen, dass irgendwas mit dem Boot nicht in Ordnung war. Zwischen den Schreien hörte sie heraus wie ein anderes Kind auf dem Boot geweint hat. Sie bekam Angst und umklammerte ihr Kind. Im Wirrwarr der Stimmen merkte sie wie das Boot anfing zu sinken.
Jemand schrie dann: Das Boot sinkt!
Ein anderer: Das Boot kippt um!
Das waren die letzten Worte die sie hörte bevor die Dunkelheit in ihren Erinnerungen einsetzte. Sie war durcheinander, Fragen schossen unkontrolliert durch ihren Kopf:
Warum bin ich am Leben? Wieso lebt mein Mann? Wie kann es sein, dass wir leben und unser liebes unschuldiges Kind von uns genommen wurde? Welche Mutter kann ihren schönen Sohn nicht festhalten? Was ist das Meer für ein Mörder, das es einen zwei jährigen Jungen an den Tod verkauft?
Sie kannte nicht eine einzige Antwort auf all diese Fragen. Sarah wusste nur, dass sie in einem Ort festsaß dessen Namen sie nicht kannte und dass der Mörder ihres Sohnes ihr friedlich ins Gesicht lachte.
Die Namen von Ländern die sie vorher noch nie gehört hatte und von denen sie sich niemals vorstellen könnte, dass sie dorthin reisen würde, prasselten plötzlich auf sie ein: Kroatien, Serbien, Ungarn, Österreich und zuletzt Deutschland. Sie musste an ihre Flucht aus einem Dorf in der Nähe von Aleppo nach Qamischli denken. Während der Flucht war der Himmel voll von Kriegsflugzeugen aus der ganzen Welt. Kriegsflugzeuge aus Amerika, Japan, Jordanien, Russland. In Sarahs Kopf befanden sich alle Länder im Dritten Weltkrieg. Alle Waffen aus allen Ländern wurden in diesem Krieg in ihrem Land getestet.
Sarah hatte damals die Hoffnung verloren, dass es unter den Menschen noch eine Gerechtigkeit geben könnte. Das was ihr blieb, war der Glaube an eine göttliche Gerechtigkeit.
Sie stellte sich dauernd eine Frage: „Wenn morgen der Krieg vorbei wäre, vielleicht würden die, die den Krieg verursacht haben vor Gericht gestellt. Vielleicht würde man auch die Kriegsverbrecher vor Gericht stellen…aber wer würde den Mörder meines Kindes vor Gericht bringen?“
- Wer ist der Flüchtling?
Der Flüchtling ist wie ein Vogel, der die Hälfte seines Lebens damit verbracht hat zu verhindern, dass sein Heimatland ein Käfig wird. Nachdem sein Land aber zum Käfig geworden war, war er schon geflohen.
Der Flüchtling ist der Vogel, der plötzlich merkt, dass auch seine neue Heimat ein Käfig ist; ein Käfig mit vier Gitterstäben. Der erste Stab ist die neue Sprache, der zweite, die Arbeit, der dritte Stab ist die Familie und der letzte Stab hindert ihn daran, einen blauen Himmel zu finden, um frei fliegen zu können.
Der Flüchtling ist der Vogel, der es schafft, alle paar Jahre einen von diesen Stäben einzureißen. Er ist derjenige, der voller Mut und Einsatz drei dieser Gitterstäbe entfernen kann. Und als er den vierten Stab einreißen kann, schaut er mit sehnsuchtsvollen Augen in den blauen freien Himmel, aber seine Flügel haben ihn im Stich gelassen.
Der Flüchtling versteht in diesem Augenblick, dass die Hälfte seines Lebens schon vorbei ist und er kein Vogel mehr sein kann.
Der Flüchtling war der Vogel, der einen Käfig gegen den anderen getauscht hat, immer darauf hoffend, dass er einmal frei unter dem blauen Himmel fliegen kann.
- Stumm
Wenn die Steine der Straße nicht mit deinen Füßen reden. Wenn die Wände dir die Zunge rausstrecken. Wenn die Häuser ihre Läden vor Dir zugemacht haben. Und wenn Du kein Wort von den Menschen verstehst. Und wenn sie kein Wort von Dir verstehen. Wenn deine Augen nur den Nebel sehen. Wenn ein Draht deine Zunge zuschnürt. Wenn du das Gefühl hast, dass Ameisen über deinen Kopf laufen. Wenn du taub, stumm und blind bist und immer Tränen in den Augen hast.
Dann weißt du, dass du auf der Flucht bist