Helîm Yûsiv:„Das Kurdische soll eine stürmische Phase erleben“
Interview von Sonja Galler
zenith sprach mit dem Autor und Journalisten Helîm Yûsiv über die Spaltung der kurdischen Sprache, Bücherschmuggel nach Syrien und die Wahrnehmung kurdischer Literatur in Deutschland
Herr Yûsiv, obwohl für fast zehn Prozent der syrischen Bevölkerung Kurdisch die Muttersprache ist, sind Bücher in dieser Sprache in Syrien verboten.
Wie wurden Sie unter diesen Bedingungen Autor kurdischer Literatur?
Meine älteren Brüder hatten früher heimliche Kontakte zu verbotenen kurdischen Parteien und haben manchmal kurdische Bücher nach Hause gebracht. Diese Bücher waren sehr alt und von schlechter Druckqualität. Mich interessierten besonders die Werke von Cegerxwîn (1904 in der Türkei geborener kurdischer Dichter und Theologe). Das erste Buch, das ich auf Kurdisch gelesen habe, war sein Gedichtband Kîme ez („Wer bin ich?“). Aber das Lesen hat den Durst in meiner Seele verstärkt, nicht gestillt – bis ich das Schreiben entdeckt habe. Ich hatte die Gelegenheit, viele Bücher auf Arabisch und sehr wenige auf Kurdisch zu lesen, weshalb ich zuerst mehr auf Arabisch geschrieben habe.
Wo konnten Sie überhaupt Texte auf Kurdisch veröffentlichen?
Zum Beispiel in illegalen Zeitschriften. Ab 1992 war die kurdische Sprache in der Türkei nicht mehr verboten und meine Texte konnten dort in Wochenzeitungen oder beispielsweise beim Avesta-Verlag erscheinen.
Der kurdisch-türkische Autor Mehmed Uzun sagte einmal, er fiele ihm leichter, in anderen Sprachen zu schreiben. Dennoch habe er Kurdisch als Publikationssprache gewählt, um etwas für sein Land und seine Kultur zu tun. Wie ist Ihr Verhältnis zur kurdischen Sprache?
Ich habe solche Schwierigkeiten nicht. Kurdisch ist die Sprache, in der ich die ersten Lieder und die ersten Geschichten gehört habe. Es ist die Sprache, in der ich meine Gefühle, meine Träume und Gedanken am besten ausdrücken kann. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt reicht es aber nicht aus, nur auf Kurdisch zu schreiben. Es ist für uns eine große Herausforderung, bei den literarischen Texten auch den technischen, künstlerischen und ästhetischen Anspruch zu berücksichtigen. Ich sehe mich als kurdischer Schriftsteller ebenso wie die anderen in der Verantwortung für die Entwicklung unserer Sprache. Unsere Literatur hat wegen all der Verbote die Phasen der europäischen Literatur nicht durchgemacht. Sie soll ausgehend vom aktuellen Stand eine stürmische Phase durchleben.
In Syrien können kurdische Zeitschriften und Bücher nur illegal herausgegeben werden?
Ja, die Herausgabe kurdischsprachiger Publikationen wird als Aktivität gegen bestehende Gesetze gewertet und dementsprechend bestraft. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass kurdische Schriftsteller zeitweise einer stärkeren Unterdrückung ausgesetzt waren als politische Aktivisten. Wer in dieser Sprache schreibt, kann sich nicht selbst außerhalb des Kreises der Politik stellen, weil alle Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert sind, die gleiche Quelle haben: die Kolonisierung und Zersplitterung unseres Landes, die Aufteilung der Kurden auf mehrere Staaten und nun die fehlende Anerkennung der Existenz des kurdischen Volkes.
Sie selbst haben Ihre Bücher vor allem im Libanon, in der Türkei und in Deutschland veröffentlicht. Werden Ihre Bücher trotzdem in Syrien gelesen?
Mein erstes Buch – „Der schwangere Mann“ – ist 1991 in Damaskus auf Arabisch erschienen. Doch danach habe ich keine weiteren Genehmigungen von der staatlichen Zensurbehörde erhalten. So habe ich meine Kurzgeschichten und Romane dann vor allem in der Türkei veröffentlicht. Von dem ersten Kurzgeschichtenband „Die Toten schlafen nicht“ wurden 1996 700 Exemplare nach Syrien geschmuggelt. 1999 habe ich von dem Roman „Sobarto“ viele Exemplare über den Libanon nach Syrien bringen lassen, aber der größte Teil wurde an der Grenze beschlagnahmt. Im Jahr 2000 bin ich nach Deutschland gekommen. Jetzt schicke ich immer einige Exemplare mit Freunden nach Syrien. Es ist nicht möglich, kurdische Bücher mit der Post nach Syrien zu schicken, da der Adressat mit Repressalien rechnen muss. Obwohl kurdische Bücher in Syrien verboten sind, gibt es doch recht viele Menschen, die sie lesen. Auch es sich dabei nicht um Tausende handelt, bin ich zufrieden.
Eine besondere Rolle scheinen surrealistische Schreibformen für Sie zu spielen, so auch in Ihrem neuen Roman Gava Ku Masî Tî Dibin („Wenn die Fische durstig sind“) …
Ich mag keine Literatur, die so realistisch ist, als wäre sie ein Foto. Das Chaos und das, was wir Kurden erlebt haben, sind einer surrealistischen Form sehr nahe. 1923 wurde Kurdistan unter vier Staaten aufgeteilt. Zwischen dem Haus meiner Eltern in Amuda (Syrien) und dem Haus meines Onkels in Nusaybin (Türkei) liegen Minen, Natodraht, Visa, arabische Soldaten auf der einen und türkische Soldaten auf der anderen Seite der Grenze. Es ist wie ein Traum, der viele Elemente und Phantasien ohne Logik enthält.
Können Sie sich vorstellen, wie es wäre, wenn die Besetzung Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg bis heute angedauert hätte und sogar die deutsche Sprache verboten wäre?
Es würde keine standardisierte deutsche Hochsprache geben. Heutzutage erlebt Kurdistan eine Situation wie die, die Sie sich eben vorgestellt haben. Wenn eine Sprache verboten und das Land geteilt ist, sind auch die Seele, die Kultur und alles andere gespalten.
Das jahrzehntelange Verbot der kurdischen Sprache hat Spuren hinterlassen. Für viele Kurden ist die eigene Muttersprache eine zugleich nahe und fremde Sprache: Sie sprechen sie zu Hause und mit ihren Freunden, können aber oftmals nicht Kurdisch schreiben oder lesen.
Wie würden Sie das Verhältnis der Kurden zu ihrer Sprache beschreiben, und gibt es da Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen?
Sowohl die Türkei als auch Syrien verfolgen gegenüber Kurden die gleiche Assimilationspolitik: Die eine Seite will aus Kurden Araber und die andere will aus Kurden Türken machen. Beide Staaten wollen die kurdische Sprache vernichten. Allerdings ist die Türkei dabei gewaltsamer vorgegangen als Syrien, da hier die Angst vor einer Abspaltung sehr groß ist. Der größte Teil Kurdistans liegt auf dem Territorium der Türkei und die Mehrheit der Kurden lebt dort. Viele Kurden in der Türkei sprechen ihre Sprache aus Angst nicht in der Öffentlichkeit. In Syrien gehen die Kurden selbstbewusster mit ihrer Sprache um. Das bedeutet aber nicht, dass das Kurdische dort nicht bedroht ist.
Gibt es einen Austausch zwischen kurdischen Autoren aus unterschiedlichen Ländern?
Die Kurden sind nicht nur geographisch geteilt worden, sondern auch in Sprache und Kultur. So gibt es mehrere Hauptdialekte, wie Kurmanci und Sorani, die sich so stark voneinander unterscheiden, dass eine Verständigung nicht möglich ist. Außerdem wird Kurdisch sowohl mit dem lateinischen als auch mit dem arabischen Alphabet geschrieben. Die kurdischen Schriftsteller kommen daher über die Ländergrenzen kaum zusammen.
2008 war die Türkei das Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Wie empfanden Sie die dortige Darstellung kurdischer Literatur?
Die Türkei ist unter dem Motto von „allen Farben“ aufgetreten, aber in Wirklichkeit ist sie nur mit einer Farbe nach Frankfurt gekommen. Kein auf Kurdisch schreibender Schriftsteller ist eingeladen worden. Unter den 150 vertretenen Verlagen aus der Türkei gab es nur einen kurdischen und einen armenischen Verlag, die als Aushängeschild dienen sollten. Während alle türkischen Beiträge auf Deutsch übersetzt wurden, hat niemand die Rede des kurdischen Verlegers Lal Laleş (Lis Verlag, Diyarbakir) übersetzt. Die Situation der kurdischen Sprache war auf der Buchmesse so wie in einem türkischen Gericht: Sie wurde wie eine unverständliche Sprache behandelt.
Woran liegt es, dass Werke kurdischer Autoren kaum in andere Sprachen übersetzt werden?
Die Kurden haben keinen eigenen Staat oder Institutionen, die Literaturübersetzungen fördern würden. Und die kurdischen Verlage können Übersetzungen nicht finanzieren. Europäische Institutionen wiederum wollen ihre Beziehungen zur Türkei nicht gefährden. Daher ist die kurdische Literatur, von einigen Ausnahmen abgesehen, beispielsweise unter Deutschen weitgehend unbekannt, da bisher kaum etwas übersetzt worden ist.
Wie wirkt sich das Leben im deutschen Exil auf Ihr Schreiben und Ihre Themenwahl aus?
Schreiben ist das Ergebnis meiner verbrannten Seele, es ist die Stimme der Tiefen und der Farben der verborgenen Gefühle. Die Orte, an denen ich lebe, spielen dabei keine zentrale Rolle. Doch beeinflussen die Erfahrungen, die ich in den acht Jahren meines Aufenthalts in Deutschland gemacht habe, meine literarischen Themen. Meine letzten beiden Romane enden in Deutschland. Ich hatte nicht geplant, Deutschland zu thematisieren, aber es ergab sich aufgrund meines Lebens hier. Das nächste Buch werden Kurzgeschichten über kurdische Flüchtlinge und ihre komisch-tragischen Geschichten in Deutschland sein.
Kurden in Syrien
Insgesamt sind beinahe 10 Prozent der syrischen Bevölkerung Kurden. Sie haben keine Aussicht auf muttersprachlichen Unterricht; Kurdisch bei der Arbeit und selbst das Singen kurdischer Lieder ist in der Öffentlichkeit verboten. Eine Publikationstätigkeit auf Kurdisch ist unter legalen Bedingungen nicht möglich.
Rund 200.000 Kurden sind bis heute staatenlos, seit Syrien sie im Zuge seiner Panarabisierungsbestrebungen 1962 ausbürgerte. Sie können kein Land erwerben und sind von staatlichen Berufen sowie sozialen Zuwendungen weitgehend ausgeschlossen. Sie können sich an keiner Wahl beteiligen und sind in ihrer Mobilität extrem eingeschränkt.
zenith, 20.01.2009